Bitte nicht wegsehen! Kindesmisshandlung in der zahnärztlichen Praxis erkennen

Die Zahl der in der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes erfassten Fälle von Kindesmisshandlung steigt. Über 4.200 Fälle wurden letztes Jahr registriert, doch die Dunkelziffer ist weitaus höher. Grund genug, auch in der Zahnarztpraxis auf Kinder zu achten, die verdächtige Blessuren mitbringen. Die Eltern berichten über Unfälle; wie aber erkennt man Verletzungen durch Gewalt und was ist dann zu tun? Ein Überblick von Dr. Cleo Walz, Dr. Clara-Sophie Schwarz und Prof. Dr. Tanja Germerott vom Institut für Rechtsmedizin der  Universitätsmedizin in Mainz.

 

Verletzungen infolge von Kindesmisshandlung sind in etwa der Hälfte der Fälle im Gesicht und in der Mundhöhle lokalisiert1. Die Mundhöhle ist keine unmittelbar einsehbare Körperregion, Verletzungen werden bei flüchtiger körperlicher Untersuchung leicht übersehen und fallen häufig bei der zahnärztlichen Untersuchung auf. Die behandelnden Zahnärzte sind unter Umständen die ersten Kontaktpersonen in Misshandlungsfällen und daher wichtige Akteure im Kinderschutz. Die Herausforderung besteht nicht nur im Erkennen misshandlungsbedingter Verletzungen. Auch der Umgang mit der Schweigepflicht, die Verletzungsdokumentation und die Veranlassung weiterer Schritte können in der Praxis Unsicherheiten hervorrufen.

Hinweise auf Kindesmisshandlung
„Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige (bewusste oder unbewusste) gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung, die in Familien oder Institutionen geschieht, und die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder sogar zum Tode führt, und die somit das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht"2. Werden verdächtige Verletzungen bei Kindern festgestellt, müssen die richtigen Wege für einen akuten und langfristigen Schutz des Kindeswohls gebahnt werden. An dieser Stelle kommt dem (zahn-)medizinischen Fachpersonal eine besondere Bedeutung zu, da durch achtsames Zuhören und Hinsehen ein erster oder weiterer Schritt aus einem gewaltgeprägten Umfeld getätigt werden kann. Gewalt wird häufig nicht als mögliche Ursache von Verletzungen in Betracht gezogen. Nicht selten werden Unfallereignisse als Ursachen für die Verletzungen berichtet. Im Falle einer Kindesmisshandlung geschieht die Anforderung von Hilfe durch die Sorgeberechtigten häufig verzögert. Die Angabe, das Geschwisterkind oder das Kind selbst habe sich die Verletzungen zugefügt, kann je nach Verletzungsbild einen weiteren Hinweis auf Misshandlung darstellen. Werden Verletzungen festgestellt, ist immer die Plausibilität des angegebenen Entstehungsmechanismus zu prüfen. Dabei ist auch zu hinterfragen, ob die Verletzung und der angegebene Mechanismus mit dem psychomotorischen Entwicklungsstand des Kindes in Einklang zu bringen sind. Nur wer die Möglichkeit einer Misshandlung in Erwägung zieht, kann letztlich auch zu ihrem Erkennen beitragen.

 

Typische Verletzungsmuster

Hautein- oder -unterblutungen als Folge stumpfer Gewalteinwirkung sind die häufigsten Verletzungen bei Misshandlungen. Die nicht-unfallbedingten Verletzungen sind vorwiegend an Körperstellen gelegen, die typischerweise nicht sturz- und stoßexponiert sind (Abbildung 1). Vielfach richtet sich die Gewalt in Misshandlungsfällen gegen den Kopf-/Halsbereich. Hier ist insbesondere auf Hauteinblutungen im Bereich der Augenpartie, der Wangen, der Ohren, der Mundregion und des Halses zu achten (Abbildung 2, 3). Verletzungen der Zähne (Lockerungen, Abbrüche, Verlust) und des Kiefers (Luxationen, Frakturen) heilen meist nicht ohne zahnärztliche bzw. kieferchirurgische Behandlung aus und stellen daher schwere Verletzungen dar, mit denen Kinder häufig zahnärztlich vorgestellt werden. Verletzungen der Mundschleimhaut einschließlich der Lippenbändchen, des Zungenbändchens und des Gaumens entstehen z. B. infolge forcierten Fütterns des Kindes. In diesem Zusammenhang können auch Hämatome an den Wangen nahe der Mundregion durch ein gewaltsames Öffnen des Mundes hervorgerufen werden (Abbildung 4). Schläge gegen die Mundregion oder ein gewaltsames Zuhalten des Mundes führen zu Verletzungen der Zunge und der Mundschleimhaut, wobei Kiefer und Zähne als Widerlager fungieren. Geformte Hämatome sind Folgen von Schlägen mit Gegenständen oder „geformten“ Körperteilen (z. B. Schläge mit der flachen Hand) und hochgradig verdächtig auf eine Misshandlung (Abbildung 5, 6). Als weitere geformte Verletzungen sind Bissverletzungen zu nennen, die durch gegenüberliegende, halbmondförmige Hämatome ggf. mit Schürfungen gekennzeichnet sind (Abbildung 7). Regelhaft stellt sich die Frage nach dem Verursacher, wobei anhand der Maße der Verletzung, insbesondere auch dem Abstand der Eckzähne, ein einwirkendes Kindergebiss von einem Erwachsenengebiss unterschieden werden kann. Weitere Befunde im Kopf-/Halsbereich, die bei der zahnärztlichen Untersuchung auffallen können, sind Stauungsblutungen (Petechien) (Abbildung 8). Bei der Feststellung dieser flohstichartigen Einblutungen muss eine Gewalteinwirkung gegen den Hals oder ein Bedecken der Atemöffnungen in Betracht gezogen werden (Abbildung 9). Typische Prädilektionsstellen für Petechien sind die Augenlider und -bindehäute, die Mundschleimhäute, die Hinterohrregionen und die Gesichtshaut. In diesen Fällen ist eine zeitnahe Dokumentation der Befunde wichtig, da Petechien schon nach wenigen Stunden bis Tagen resorbiert sein können. Bei einer Gewalteinwirkung gegen den Hals ist zudem die Gefahr von Schwellungen und Einblutungen in die Halsweichteile zu bedenken und eine HNO-ärztliche Abklärung in Erwägung zu ziehen.

Bildbeschreibung Abb. 1 und 2

Abb. 1: Typische Lokalisationen für misshandlungsbedingte Verletzungen

Abb. 2: Nicht mehr ganz frische Einblutungen in das linke Augenober- und -unterlid und die Stirnhaut infolge eines Faustschlags

Bildbeschreibung Abb. 3 und 4

Abb. 3: Einblutungen an der linken Ohrmuschel durch gewaltsames Ziehen am Ohr

Abb. 4: Bereits in Resorption befindliche Einblutungen der rechten Wange und auf Höhe des rechten Kieferastes

Bildbeschreibung Abb. 5 und 6

Abb. 5: Streifig konfigurierte Hauteinblutungen der rechten Wange infolge eines Schlages mit der flachen Hand

Abb. 6: Streifig geformte Hauteinblutungen der rechten Wange infolge eines Schlages mit der flachen Hand

Bildbeschreibung Abb. 7 und 8

Abb. 7: Gegenüberliegende, halbmondförmig konfigurierte Hautverfärbungen, typische Bissverletzung

Abb. 8: Punktförmige Einblutungen (sog. Petechien) in das rechte Augenober- und -unterlid sowie die Gesichtshaut infolge Würgens

Bildbeschreibung Abb. 9

Abb. 9: Punktförmige disseminierte Einblutungen der Halshaut mit geformter Aussparung infolge stumpfer Gewalt gegen den Hals

Vorgehensweise bei Verdachtsfällen

Die gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungen bei Kindesmisshandlung ist für ein mögliches späteres Strafverfahren unerlässlich. Auch für andere Institutionen im Kinderschutz (Jugendämter, Kliniken u. a.), die im Verdachtsfall hinzugezogen werden, sind die (zahn-)ärztlichen Dokumentationen von großer Bedeutung, um weitere Schritte zum Schutz des Kindes zu veranlassen. Die Dokumentationen können die einzigen objektiven Befunde sein, die zur Abklärung in Misshandlungsfällen vorliegen. Kinder sollten bei Verdacht auf eine Kindesmisshandlung in eine Klinik eingewiesen werden, um vorübergehenden Schutz zu gewährleisten und weitere Diagnostik im Rahmen eines Kindesmisshandlungsscreenings, auch zur Abklärung von Differentialdiagnosen, anzuschließen. Zudem bestehen an vielen Kliniken spezialisierte Kinderschutzgruppen, welche den Fall in interdisziplinärer Zusammenarbeit weiterbearbeiten. Bei begründeten Anhaltspunkten für eine Kindesmisshandlung sind Ärzte zur Offenbarung befugt, soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsguts erforderlich ist (§ 34 StGB, rechtfertigender Notstand). Zur Wahrung höherer Rechtsgüter können Zahnärzte – bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindesmisshandlung – das zuständige Jugendamt und/oder die Polizei informieren. Seit 2012 besteht zusätzliche Handlungssicherheit durch das Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG). Die Forensische Ambulanz am Institut für Rechtsmedizin Mainz bietet zu den Geschäftszeiten eine konsiliarische Mitbeurteilung von Befunden an.

 

Dokumentation von Verletzungen

Verdächtige Verletzungen sollten nach forensischem Standard dokumentiert werden. Hierzu sind die Verletzungen zunächst in einer Übersichtsaufnahme mit den angrenzenden Körperstrukturen („anatomischen Landmarken“) und im Anschluss im Detail mit Maßstab zu fotografieren (Abbildung 10). Bei der Fotodokumentation ist auf eine ausreichende Schärfe und Belichtung der Bilder zu achten. Zudem ist empfehlenswert, die Befunde in ein Körperschema einzuzeichnen und eine kurze schriftliche Dokumentation mit Beschreibung von Lokalisation, Beschaffenheit, Größe, Form und Farbe der Verletzung anzufertigen.
Ein Beispiel für eine richtige Dokumentation: „An der rechten Oberarminnenseite, im körpernahen Drittel, drei annähernd in einer Linie gelegene, fleckförmige, bis zu ca. 2 cm durchmessende, rot-livide Hautunterblutungen“. Wichtig ist zu beachten, dass zunächst eine rein deskriptive Befunddokumentation erfolgt und keine Interpretation oder juristische Wertung der erhobenen Befunde vorgenommen wird. Interpretierende und verallgemeinernde Formulierungen wie „Schlagverletzung“, „Würgemale“ oder „multiple Prellmarken im Gesicht“ sind bei der Verletzungsdokumentation zu vermeiden.

 

Bildbeschreibung Abb. 10

Abb. 10: Beispiel für eine gerichtsverwertbare Fotodokumentation

Fazit für die Praxis

  • Misshandlungsbedingte Verletzungen bei Kindern sind häufig im Kopf-/Halsbereich lokalisiert.
  • Die Versorgung kindlicher Gewaltopfer erfordert neben der medizinischen Behandlung Handlungssicherheit im Erkennen und Dokumentieren von verdächtigen Verletzungen.
  • Zahnärzte sind wichtige Akteure im Kinderschutz, da sie oftmals die ersten Kontaktpersonen bei Misshandlungen sind.

 

Die Forensische Ambulanz der Rechtsmedizin Mainz bietet zu den Geschäftszeiten eine konsiliarische Mitbeurteilung von Befunden an (Tel.  06131 17-9499).

Die „Medizinische Kinderschutzhotline“ in Ulm bietet eine kostenfreie und 24 Stunden erreichbare telefonische Beratung für Heilberufler bei Verdacht von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch (Tel. 0800 19 210 00).